Interview mit Ilse Aigner

Interview in der Hallertauer Zeitung
mit der Präsidentin des Bayerischen Landtags Ilse Aigner und Parlaments-Stenograf Georg Frühschütz

19. Mai 2021

Franz Xaver Gabelsbergers Vermächtnis


Horst Pinsker stellt Monografie über Erfinder der Kurzschrift Landtagspräsidentin Ilse Aigner vor.


Im Bayerischen Landtag ist Franz Xaver Gabelsberger (1789 - 1849) allgegenwärtig. Sein Porträt hängt in der stenografischen Abteilung, darunter in einer kleinen Vitrine eine liebevoll zusammengestellte Sammlung mit einem wahren Juwel: eine Original (kurz-)schrift aus der Feder des „Meisters“. Am Mittwoch machte sich Horst Pinsker auf den Weg nach München, um Landtagspräsidentin Ilse Aigner ein Exemplar seiner Monografie über den Erfinder der Kurzschrift zu überreichen. Mit dabei war bei dem Termin auch Georg Frühschütz aus dem Team der Landtagsstenografen.



Frau Präsidentin Aigner, sagt Ihnen der Name Franz Xaver Gabelsberger etwas?


Aigner: Ja, in der Tat. Denn oben bei unseren Stenografen im vierten Stock hängt ein schönes Porträt von Herrn Gabelsberger.


Sie haben die Wilhelm-Leibl-Realschule in Bad Aibling besucht, ehe Sie den Beruf der Radio- und Fernsehtechnikerin erlernt haben. Stand in der Schule das Fach Stenografie auf dem Lehrplan?


Aigner: Ja, ich habe da auch noch „Steno“ gelernt. Es war nicht wirklich mein Lieblingsfach, aber gehasst habe ich es nicht. Immerhin habe ich mit einem „Sehr gut“ abschließen können - bei 100 Silben pro Minute.


Was ist davon geblieben? Könnten Sie sich zum Beispiel vorstellen, unser Gespräch hier mitzustenografieren?


Aigner: Das könnte ich bestimmt nicht. Stenografie lebt von der Praxis - und die hatte ich - auch durch den technischen Beruf - nicht aufrechterhalten. Heute bedauere ich es, denn es wäre bestimmt manchmal hilfreich, die eine oder andere Sequenz aus Sitzungen mitzuschreiben. . .


Und Sie, Herr Pinsker, wie sieht es mit Ihrem Steno aus?


Pinsker: Eigentlich ganz gut. Obwohl ich von meinem Stenolehrer den ersten und einzigen Verweis meiner Schullaufbahn bekommen habe, habe ich das Fach recht gerne gehabt. Nach der Schule habe ich Steno bis heute weiterhin zum Festhalten wichtiger Dinge bei Veranstaltungen und Besprechungen eingesetzt - natürlich nicht in der Geschwindigkeit und Qualität der Parlamentsstenografen, aber halt für den Hausgebrauch.


Sie haben sich eingehend mit dem Leben und Werk Franz Xaver Gabelsbergers beschäftigt. Auch er schrieb im Parlament Reden mit. Glauben Sie, er könnte mit der von ihm erfundenen Kurzschrift den Rednern heute folgen?


Pinsker: Da - so glaube ich - würde selbst der Meister an seine Grenzen stoßen. Die Stenografie hat sich in diesen 200 Jahren doch wesentlich fortentwickelt. Die Gabelsberger-Kurzschrift ermöglichte angeblich 200 bis 250 Silben pro Minute, während ein Parlamentsstenograf wie Herr Georg Frühschütz mit der heute üblichen Deutschen Einheitskurzschrift in der Form der Redeschrift etwa 400 bis 500 Silben schafft. Die Kunst ist übrigens nicht nur das schnelle Schreiben, sondern das sinnvolle, oft selbst entwickelte Kürzen. Und selbst damit stoßen manche an ihre Grenzen, wenn Abgeordnete bei zu Ende gehender Redezeit Silben-Salven wie ein Maschinengewehr raushauen.


Trotz aller modernen Kommunikationsmittel und Aufzeichnungsmöglichkeiten ist es in Parlamenten heute noch üblich, die Reden der Abgeordneten mitzustenografieren. Warum ist das so?


Aigner: Bei uns im Bayerischen Landtag hat Stenografie eine lange Tradition. Das Handwerkszeug ist bis heute ganz klassisch: Stift und Papier. Wobei wir den Kollegen einen speziellen Stenoblock zur Verfügung stellen - der hat ein besonders glattes Papier.


Ein Stück Nostalgie?


Aigner: Wir setzen nicht aus nostalgischen Gründen auf Stenografie, sondern weil es im Vergleich zur redaktionellen Mitschrift um einiges schneller und effektiver ist. Dokumentiert wird bei uns im Landtag alles: Plenum, Ausschüsse, Untersuchungsausschüsse oder Ältestenrat - alles muss festgehalten und archiviert werden.


Aber es läuft doch auch ein Band mit?


Aigner: Parallel werden alle Sitzungen natürlich auch digital aufgezeichnet, damit man die Protokolle im Nachgang vervollständigen kann - falls es mal wieder heiß herging. Und einen Zwischenrufer oder eine Zwischenruferin im Plenum kann die beste Aufzeichnungstechnik nicht so gut identifizieren wie unsere Stenografen. Die digitalen Mitschnitte werden beim Redigieren der Texte zum Abgleich genutzt, damit das finale Protokoll auch hundertprozentig korrekt ist.


Gute Nachrichten also für die Zukunft der Stenografie, Herr Pinsker. Was macht für Sie Gabelsbergers „Erfindung“ so einzigartig, dass er heute zurecht als Genie gilt?


Pinsker: In Gabelsbergers Zeit gab es in Deutschland etwa 800 verschiedene Kurzschrift-Systeme. Im Gegensatz zu seinen Wettbewerbern entwickelte er eine grafische Form mit leichten Verbindungen und geistreichen Kürzungsverfahren, während andere in erster Linie eine geometrische Methode verfolgten. Deshalb wurden auch viele Elemente seines Systems 1924 in die Deutsche Einheitskurzschrift übernommen. Dass Gabelsberger die markanteste Persönlichkeit in dieser Zunft ist und als „Vater der Stenografie“ gilt, hat meines Erachtens wohl mit seiner umfangreichen „Anleitung zur deutschen Rede-Zeichen-Kunst oder Stenographie“ zu tun. Nach 17 Jahren akribischer Forschung und mit einer außerordentlichen Detailversessenheit gab er 1834 im Eigenverlag dieses 548 Seiten starke Werk heraus. Damit hat er sich selbst ein Denkmal gesetzt (und wirtschaftlich fast ruiniert).


Herr Frühschütz, was sind die Aufgaben des stenografischen Dienstes hier im Haus?


Frühschütz: Irgendwie muss man den flüchtigen Schall gesprochener Rede in die geduldige Papierform überführen. Die Plenarreden der Abgeordneten gelten nämlich aus demokratietheoretischen Gründen als so wichtig, dass sie der Nachwelt wörtlich überliefert werden sollen. Dies geschieht am zweckmäßigsten durch die Kombination von stenografischer Mitschrift und Audioaufnahme. Im Plenarsaal geht es oft hitzig zu, mehrere Redner sprechen gleichzeitig, erregt hallen Zwischen- und Gegenrufe von allen Seiten, Beifall wird gespendet, Abneigung bekundet.


Sie kennen also Ihre „Pappenheimer“?


Frühschütz: Lassen Sie es mich so erklären: Stünde für die Verschriftlichung lediglich eine Audioaufnahme zur Verfügung, wäre insbesondere die Zuordnung zum jeweiligen Akteur schwierig. Diese leistet der Stenograf, indem er im Sitzungssaal sehr genau aufpasst und jeden Akteur mit dazugehöriger Handlung sofort namentlich fixiert. Zurufe sind auf der Audioaufnahme meist nicht verständlich, aber auch sie müssen ins Protokoll. Das Stenogramm hilft außerdem sehr beim Erstellen des Reindiktats: Man hat das Gesagte vor Augen UND im Ohr, bedient sich also mehrerer Sinne.


Auf diese Weise lassen sich selbst Satzstummel, verunglückte Formulierungen und Irrtümer gleichsam reparieren und in einem Arbeitsgang druckreif diktieren. Wer diese Arbeit geringschätzt, möge sich selbst einmal an der Verschriftlichung einer Plenardebatte versuchen. Man will gar nicht glauben, wie sehr in heftiger Diskussion Satzbau, Sinn und Form sozusagen aus dem Leim gehen können.


Also die Mischung aus Mitschrift und Technik macht’s?


Frühschütz: Was ich sagen will: Stenogramm und Tonaufzeichnung sind keine Konkurrenten, sondern ergänzen einander; was die reine Technik nicht kann, kann die Kulturtechnik Kurzschrift. In der Kombination ergibt das die effizienteste Arbeitsweise.


Wie viele Stenografen beschäftigt der Bayerische Landtag?


Aigner: Bei uns im Landtag haben wir zwölf festangestellte Stenografen. Die brauchen wir, denn es fällt schon einiges an Arbeit an, wenn jede Sitzung dokumentiert sein soll. Bei einer Plenarsitzung wechseln sich die Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel alle zehn Minuten ab.


Man spricht von „Stenografen“, aber ist das tatsächlich noch eine reine Männerdomäne?


Aigner: Ja, bis in die Fünfzigerjahre war der Beruf eine reine Männerdomäne. Die wurde erst mit der ersten Frau - Anni Schwarz - aufgebrochen. Sie war ein echtes Original und hat es geschafft, sich gegen ihre männlichen Kollegen zu behaupten. Heute ist das natürlich keine Besonderheit mehr, sondern die Abteilung ist bunt gemischt.


Wie war das bei ihnen in der Schule, Herr Pinsker. Waren da die Mädchen oder die Jungs beim Schreiben schneller?


Pinsker (lacht): Das kann ich leider nicht beantworten, weil zu meiner Schulzeit noch strenge Geschlechtertrennung geherrscht hat. Deshalb gab es zwar keinen direkten Vergleich in der Klasse, aber die besten Ergebnisse in der Abschlussprüfung hatten die Mädels.


Frühschütz: Früher hieß es oft: „Fräulein, kommen Sie zum Diktat!“ – Die Parlamentsstenografie war dagegen traditionell eine Männerdomäne mit elitärem Selbstverständnis und ausgeprägtem Korpsgeist. Dies ist heute anders. Von den zwölf festangestellten, in der Regel verbeamteten Parlamentsstenografen des Bayerischen Landtags sind nur noch fünf Männer. Rechnet man die ausschließlich weiblichen Schreibkräfte dazu, kann man ohne Übertreibung sagen: Ein Parlamentsstenograf ist heutzutage ein Hahn im Korb.


Was sind die Einstellungsvoraussetzungen?


Aigner: Obwohl Stenografie als Fach nicht mehr an Schulen unterrichtet wird, interessieren sich für das Handwerk noch immer einige. Die können sich entweder studienbegleitend oder mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium für die Ausbildung direkt beim Landtag - oder anderen Parlamenten wie dem Bundestag - bewerben. Die viersemestrige Ausbildung findet direkt bei uns im Haus statt. Andere deutsche Parlamente haben aus Personalmangel ihre Mitschrift bereits digitalisiert oder auf redaktionelle Abschrift umgestellt. Als Bayerischer Landtag sind wir natürlich besonders stolz, dass wir mit unseren Mitarbeitern das Pensum gut bewältigen können.


Frühschütz: Aus der Praxis ergänze ich noch: Der Parlamentsstenograf braucht einen schnellen Kopf und ausgeprägtes Sprachgefühl. Beide Voraussetzungen sind sowohl für die Beherrschung der Kurzschrift als auch die geistige Beherrschung einer Parlamentsdebatte unerlässlich. Je breiter die Allgemeinbildung, desto schneller findet sich der Parlamentsstenograf in den unterschiedlichsten Themenfeldern zurecht. Sprechen tun immer die Experten in Gestalt von Fachpolitiker oder externem Fachmann; der Parlamentsstenograf schweigt, schreibt und ist notwendig Generalist.


Auf was kommt es sonst noch an, Herr Frühschütz? Mir scheint es, die Liebe zum Beruf?


Frühschütz: Neben Kopf und Sprachgefühl als unerlässliche Voraussetzungen zählt zum Berufsethos eine gehörige Portion Demut. Der Parlamentsstenograf darf nie abschalten und muss immer aufmerksam zuhören, wenn andere reden, selbst dann, wenn schon alles gesagt ist, nur noch nicht von jedem. Zum Glück ist das Berufsethos jedoch nicht so streng, dass dem Stenografen auch verboten wäre, sich seinen Teil dazu zu denken, ganz im Gegenteil: Er soll es sogar. Nur wer mitdenkt, kann, wie in Ausschussprotokollen üblich, eine stringente Zusammenfassung liefern. Nochmals zu den formalen Einstellungsvoraussetzungen, die da lauten: abgeschlossenes Studium, gleichgültig welcher Fachrichtung; meisterhafte Beherrschung der Kurzschrift mit Leistungsnachweis von wenigstens rund 300 Silben pro Minute.


Frau Präsidentin, Hand aufs Herz, lesen Sie die Protokolle der Landtagssitzungen später noch einmal nach?


Aigner: Alles lese ich natürlich nicht. Aber die Protokolle sind ja für das Archiv und die Nachvollziehbarkeit extrem wichtig und notwendig. Ich beschäftige mich deshalb zwangsläufig mit den Protokollen, wenn es zum Beispiel darum geht, Unstimmigkeiten aus der Vergangenheit zu klären.


Was glauben Sie, wird die moderne Technik über kurz oder lang die Stenografen-Abteilung Ihres Hauses ersetzen?


Aigner: Der Bayerische Landtag ist für innovative Konzepte und digitale Ideen immer offen. Die herausragende Effizienz des alten Handwerks ist jedoch praktikabler als rein digitale Lösungen – zumindest bisher.


Ihre Meinung, Herr Frühschütz?


Frühschütz: Ein klares Nein. Dies gilt besonders für Ausschussprotokolle, in denen der Parlamentsstenograf in eigenen Worten eine ausführliche Zusammenfassung schreibt. Kürzlich hat der Wirtschaftsausschuss eine Anhörung zu Künstlicher Intelligenz durchgeführt. Was da gekauderwelscht wurde, bringt keine Spracherkennung auch nur annähernd fehlerfrei zu Papier. Der Parlamentsstenograf ist kein reiner Mitschreiber, in der Nachbearbeitung ist er in erster Linie Redakteur. Er formuliert das, was am Ende der Nachwelt überliefert wird. Die Maschinen sind mit diesem Anspruch derzeit noch heillos überfordert. Ob die Künstliche Intelligenz jemals in der Lage sein wird, Dialekte unbekannter Sprecher, Ironie oder Irrtümer zu erkennen, darf bezweifelt werden. Erst recht aber sind Zweifel angebracht, ob Künstliche Intelligenz jemals eine sinnvolle Zusammenfassung des wirklich Gemeinten liefern kann, erst recht dann, wenn die Ausführungen selbst schon nicht intelligent waren - jeder hat mal einen schlechten Tag.


Herr Pinsker, was würde Franz Xaver Gabelsberger über den heutigen Parlamentsbetrieb denken und speziell über „seine“ Stenografen?


Pinsker: Wenn sich Franz Xaver Gabelsberger heute den stenografischen Dienst im Bayerischen Landtag anschauen würde, wäre er in seiner Bescheidenheit wohl sehr zufrieden über die Basis, die er geschaffen hat. Noch mehr aber würde ihm die Fortentwicklung zu dieser Perfektion gefallen: Die „Stressresistenz“ seiner Schüler in ihrem Job, alle Zwischenrufe, Beifallsbekundungen und Gesten der Abgeordneten erfassend und das unter einem gewaltigen Zeitdruck bei einer Fehlerquote fast gegen null gehend.


Während seinerzeit die gedruckten Protokolle meist nur eine überschaubare Zahl an Personen, Behörden, Institutionen, Zeitungen, … erreichten und schließlich in der Parlaments-Bibliothek verschwanden, stehen sie heute in der Regel auf zahlreichen Kanälen kurz nach dem Ereignis selbst auf dem ganzen Planeten jeder und jedem Interessierten zu jeder Tages- und Nachtzeit dauerhaft und kostenlos zur Verfügung.


Seine „Jünger“ folgen dem Vermächtnis ihres „Meisters“, das in den Worten endet:


„Idee und Wort im Flug der Zeit/ Ans Räumliche zu binden,/ Sucht’ ich in ernster Tätigkeit/ Ein Mittel zu ergründen./ Und was ich fand, das gab ich hin/ Um Nutzen zu verbreiten./ O möge stets ein gleicher Sinn/ Auch meine Schüler leiten.“


Also lassen wir Franz Xaver Gabelsberger das letzte Wort.


Interview: Harry Bruckmeier


Herzlichen Dank sagen wir Harry Bruckmeier von der Hallertauer Zeitung für seinen Einsatz für diesen Termin bei der Landtagspräsidentin und für die Erlaubnis der Veröffentlichung dieses Interviews auf unserer Website.


Horst Pinsker  Ganz kurz: Franz Xaver Gabelsberger und die Stenografie

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*Jahr der Aufstellung des Gabelsberger-Denkmals in München 

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